Sekunden sind entscheidend – nach einem Herzstillstand oder einem Unfall. „Doch es gibt nicht genug Ersthelfer“, weiß Rettungsassistent Ralf Farwick (65). „Dabei kann es jeden treffen“, sagt der Erste-Hilfe-Beauftragte des Kreisverbandes des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Und wenn diejenigen, die wegschauen, plötzlich wieder hingucken, um mit ihrem Handy zu filmen, dann wird Farwick wütend. Sehr wütend.
Wie groß ist die Bereitschaft der Bürger, in einer Notsituation zu helfen?
Sie hält sich in Grenzen. Denn die wenigsten machen sich die Mühe, ihre Kenntnisse aufzufrischen.
Mit welchen Konsequenzen?
Die Menschen sind schlecht ausgebildet und trauen sich nicht, die Initiative zu ergreifen. Denn in der Regel liegt ihr Kurs viele Jahre zurück. Die meisten haben ihn vor der Führerscheinprüfung gemacht und eine Menge von dem vergessen, was sie damals gelernt haben. Hinzu kommt, dass sich im Laufe der Zeit die Inhalte verändert haben.
Inwiefern?
Heute ist die Defibrillator-Schulung ein fester Bestandteil der Kurse. Das ist ein Gerät, das einen kontrollierten Stromstoß abgibt und bei einem plötzlichen Herzstillstand zur Wiederbelebung eingesetzt wird.
Ein weiteres Beispiel. Früher hieß es bei der Wiederbelebung: den Brustkorb zwei bis drei Zentimeter tief eindrücken, bei ausgewachsenen und korpulenten Menschen auch fünf Zentimeter. Heute wissen wir: Fünf bis sechs Zentimeter sind nötig. Viele trauen sich das aber nicht und sind zu zaghaft.
Sie befürchten wahrscheinlich, Rippen zu brechen?
Mag sein, aber der Tod ist doch schlimmer. Oder? Man kann in solch einer Situation wirklich nichts falsch machen!
Doch Unwissenheit allein ist nicht der einzige Grund?
Nein, viele schrecken vor der Mund-zu-Mund-Beatmung zurück. Vor allem in Zeiten von Corona. Das ist ja auch verständlich. Aber dann sollten sie zumindest die Herzdruckmassage beibehalten und den Brustkorb während der ersten Minuten mit dem Handballen ununterbrochen in der Mitte massiv eindrücken. Das Gehirn braucht Sauerstoff! Die Folgen einer versäumten oder verzögerten Wiederbelebung sind nicht zu beheben.
Wann ist eine Auffrischung nötig?
Spätestens nach drei Jahren.
Wie groß ist das Interesse an Ihren Erste-Hilfe-Kursen?
Unsere Kurse sind voll, auch jetzt während der Corona-Zeit. Allerdings sind sie mit zehn Teilnehmern nur halb so groß. Meistens sind das Männer und Frauen, die den Schein für ihren Beruf, das Hobby, das Studium oder den Führerschein benötigen.
Und was ist mit Menschen, die aus eigenem Antrieb kommen?
Freiwillig kommt fast keiner. Geld und Zeit sind für viele ein weiteres Hindernis. Erst wenn etwas in der Familie vorgefallen ist, ein Notfall oder eine brenzlige Situation, dann überlegen sie es sich anders und wollen die lebensrettenden Handgriffe lernen.
Können Sie in Ihren praxisorientierten Kursen während der Pandemie überhaupt effektiv arbeiten?
Ja, dank unseres Hygieneschutzkonzeptes unter 2G-Bedingungen. Allerdings verzichten wir auf kontaktintensive Übungen, und auch die Mund-zu-Mund-Beatmung bei unserer Reanimationspuppe wird nur angedeutet, nicht aber die Herzdruckmassage.
Wie groß ist Ihr Team?
Rund 50 Ausbilder machen beim DRK die Menschen in den Städten des Kreises fit für den Notfall. Zu den Teilnehmern zählen vor allem Führerscheinbewerber, Betriebshelfer, Übungsleiter der Sportvereine oder Medizin-Studenten. Eltern informieren sich ebenfalls über Erste Hilfe bei Kindern. Wir besuchen aber auch Tagesstätten und Schulen. Außerdem kann uns jede Gruppe buchen. Ein Anruf genügt, und wir machen einen Termin aus.
Ist Erste Hilfe schwer zu lernen?
Nein. Das kann jeder. Reanimation ist so einfach. Wenige Handgriffe genügen. Und da die meisten Herzinfarkte zu Hause passieren, sollte sich jeder darauf einstellen, seinem Lebensgefährten oder einem Familienangehörigen irgendwann einmal beizustehen.
Welche wichtigen lebensrettenden Maßnahmen gibt es?
Themen sind der Notruf und das Absichern der Unfallstelle, ebenso die stabile Seitenlage und das Stillen von Blutungen. Aber entscheidend sind Herzdruckmassage und Beatmung. 30 Druckstöße auf den Brustkorb, dann den Kopf überstrecken und zweimal beatmen. Das muss der Helfer wiederholen, bis die Rettungskräfte eintreffen. Wer dazu nicht in der Lage ist, kann trotzdem etwas tun, zum Beispiel dem Hilfsbedürftigen beistehen – und diejenigen in ihre Schranken weisen, die das Unglück oder den Notfall filmen wollen. Die Zahl derer nimmt leider zu.
Ist das tatsächlich so extrem?
Ja, das ist in den vergangenen Jahren immer schlimmerer geworden. Es sind an Unfallstellen sogar Helfer nötig, die den Verletzten vor den Gaffern abschirmen. Und warum entstehen denn so viele Staus? Weil die Leute langsam vorbeifahren, ihr Handy aus dem Fenster halten und versuchen, alles zu erhaschen, um ja nichts zu verpassen.
Info: Erste-Hilfe-Kurs beim DRK, 48 Euro (neun Unterrichtseinheiten), 2G-Regel, Tel. 0 23 61 / 93 93 171.
Quelle: Recklinghäuser Zeitung