Frau Bara, wie ist die Lage in Beirut?
Es herrscht nach wie vor Ausnahmezustand. Die Aufräumarbeiten sind in vollem Gang. Alle Einwohner sind unterwegs, um Straßen und Häuser wiederherzurichten. Die Menschen verteilen Lebensmittel, sammeln Spenden und unterstützen jene, die darauf angewiesen sind. Man hilft einander.
Was wird am dringendsten benötigt?
Zum einen mangelt es an medizinischer Versorgung. Es gibt viel zu wenig Antibiotika oder auch Verbandsmaterial. Zum anderen – und das ist ein Riesenproblem – werden Notunterkünfte gebraucht. Mindestens 300.000 Menschen sind durch die unfassbar starke Detonation obdachlos geworden.
Es heißt immer wieder, die Einwohner seien über die Tatenlosigkeit der Behörden erzürnt. Wie ist die Stimmung in der libanesischen Hauptstadt?
Die Menschen sind frustriert und verzweifelt. Aber ich nehme vor allem eine unglaublich große Solidarität wahr. Die Leute sind mit viel Engagement dabei, anderen unter die Arme zu greifen. Wer am Tag der Explosion nicht verletzt wurde, half jenen, die verwundet waren. Es gab wirklich beeindruckende Szenen. Einer meiner Bekannten wurde schwer verletzt, Fremde packten ihn in ein Auto. Als sie nicht mehr weiterkamen, übernahm ein Motorrad den Transport. Zum Schluss trugen ihn Beiruter mit ihren Armen ins Krankenhaus.
Mehr als 5000 Verletzte, dazu viele Corona-Infizierte: Die Kliniken sollen völlig überfordert sein. Ist das auch ihr Eindruck?
In Deutschland wären bei einer derartigen Katastrophe die Krankenhäuser ebenfalls überfordert. Im Libanon war das Gesundheitssystem schon vor der Pandemie am Anschlag. Dann sollen die Kliniken von einer auf die andere Sekunde so viele Tausend Menschen versorgen. Das kann nicht funktionieren. Das libanesische Rote Kreuz hat deshalb sofort mobile Gesundheitsstationen errichtet, damit man sich um die Verletzten kümmern kann.
Wird sich das Coronavirus jetzt noch rascher verbreiten?
Die Fallzahlen werden wohl drastisch ansteigen. Wenn die Menschen einander helfen, zum Beispiel Verschüttete aus den Trümmern geborgen werden, dann trägt man nicht unbedingt einen Mund-Nasenschutz und achtet darauf, die Abstandsregeln einzuhalten.
Bei der Detonation wurden für Beirut und das ganze Land wichtige Getreidesilos zerstört, der Hafen kann nicht mehr genutzt werden, über den ein Großteil der Einfuhren in den Libanon gelangten. Droht jetzt auch noch eine Hungersnot?
Schon vor der Katastrophe herrschte große Not. 30 Prozent der Menschen leben unter der Armutsgrenze. Jetzt wird sich die Lage sicherlich deutlich verschärfen.
Wie kann das Deutsche Rote Kreuz Beirut helfen?
Wir sind seit Jahren im Land tätig und deshalb in der Lage gewesen, schnell auf den Notfall zu reagieren. Es gibt einen von uns unterstützten Ambulanzdienst und Blutbanken. Inzwischen ist auch ein DRK-Frachtflugzeug in Beirut eingetroffen, beladen mit Bausätzen für Notunterkünfte, Schutzausrüstung und vieles andere mehr. Das sind 43 Tonnen Hilfe, finanziert durch das Auswärtige Amt.
Quelle: Tagesspiegel Online, Berlin